Süsel 26.07.1864 von
Thomas Sävert
Umgebungskarte
(Auszug aus Top200, Bundesamt für Kartographie und Geodäsie)
Aus den Mittheilungen des Vereins Nördlich der Elbe zur Verbreitung Naturwissenschaftlicher Kenntnisse, Band 7, 1866. Herausgeber: Verein Nördlich der Elbe zur Verbreitung Naturwissenschaftlicher Kenntnisse (Anm.: Die genannte Abbildung liegt leider nicht vor):
"Mittheilungen über die Windhose, welche am 26. Juli 1864, Nachmittags gegen 5 Uhr, durch das holsteinische Kirchdorf Süsel zog.
Auf die Nachrichten von den großen Verwüstungen, welche eine Windhose in Süsel am 26. Juli d. J. angerichtet haben sollte, eilten viele Besucher an den Ort der Zerstörung, denen ich leider erst am vierten Tage nach dem Ereignis folgen konnte. Die Spuren derselben waren von so allgemeinem Interesse, daß ich mich veranlaßt sah, möglichst viele Notizen darüber zu sammeln und eine Handzeichnung aufzunehmen. In letzterer sind die Orte der größten Zerstörung durch eine schwarz gestrichelte Linie angegeben, welche die Mitte des Wirbels bezeichnen dürfte. (s. d. Abbildung).
Die in dem Grundriß der Häuser schraffierten Flächen zeigen Beschädigungen derselben, die unschraffierten Stellen daneben den Ort, wo der Schutt lag. Die runden Figuren mit Strichen sind umgeworfene Bäume und die von denselben ausgehenden Striche deuten die Richtung ihres Falles an. Die übrigen runden Figuren bezeichnen noch stehende Bäume. Auf diese Zeichnung mich beziehend, will ich das Gesehene und Gehörte mittheilen und nach dem Gange der Naturerscheinung zunächst an einander reihen.
1) In der Gegend von Gießelrade und Steinrade, auch bei Schwienkuhl, wurden die ersten Spuren des Wirbels bemerkt; man hörte Geräusch in der Luft, sah starke Bewegungen in den Wolken, so daß auf dem felde arbeitende Landleute ihre Knechte ermahnten, die Pferde anzuhalten, weil ein Unwetter zu befürchten sei; es zog aber vorüber, ohne sich weiter bemerklich zu machen.
2) Arbeiter, welche auf dem großen Moore westlich von Süsel waren, sagten aus: "Wir hatten den Tag über Südwind, am Nachmittage bekamen wir mit einigen schwachen Donnerschlägen Regen aus Westen, der so stark war, daß wir die Arbeit verließen und Schutzb unter Schirmen suchten; wir mußten diese aber nach und nach über Norden nach Osten rücken, um nicht naß zu werden, weil der Wind in kurzer Zeit die halbe Windrose durchlief. Gleich darauf sahen wir in der Richtung nach den südlichsten Häusern von Süsel zwei lange Schichtwolken von Norden nach Süden gegen einander ziehen, sich verwickeln und einen bis auf die Erde reichenden Wirbel bilden, der wie eine dunkle Rauchwolke rasch durch Süsel zog."
3) Uebereinstimmend hiermit erzählen Andere: "Westlich von den südlichsten Häusern des Ortes waren die ersten Spuren der Windhose sichtbar, es fanden sich dort ausgerissende Pflanzen, es ward ein Milchmädchen umgeworfen und ein Hirtenknabe über anderthalb Koppeln geschleudert; der Buchweizen eines Feldes ward so niedergedrückt, als ob er gewalzt wäre;" letzteren fand ich indeß wieder aufgerichtet.
4) Da wo der Weg des Wirbels links in das Feld der Handzeichnung tritt, sind von 5 neben einander stehenden Apfelbäumen 4 geworfen, weiter östlich isdt eine kleine Esche gebrochen, die übrigen Bäume des Gartens sind weniger beschädigt, so daß der Weg der Zerstörung nur etwa 15 Schritte breit ist.
5) Der Besitzer des Hauses No. 1 erzählt von dem furchtbaren "Gesause und Geknatter", welches dem Winde vorausging und wie sein Knecht davon erschrocken, in eine dunkle Kammer kroch. Ein aus dem Hause rennender Arbeiter wurde, ohne Schaden zu nehmen, leicht von der Spitze des nach Westen fallenden Giebels gestreift. Der Besitzer selbst wollte ihm folgen, ward aber auf der Diele niedergeworfen und wäre ohne diesen wirklichen Glücksfall von dem Giebel des Hauses erschlagen. Sein Sohn war auf der sogenannten Hilge beschäftigt, dem niedrigen Boden über den Ställen - da wo in der Zeichnung das y ist; erschreckt durch den furchtbaren Lärm, zieht er den Kopf zwischen die Beine und wie er ihn wieder zu heben wagt, sieht er den blauen Himmel über sich; ohne ihn zu beschädigen, war der Dachstuhl des ganzen Hauses über ihn geflogen und fand sich theils auf der Hofstelle, theils im benachbarten Garten. (No. 2)
6) Vom Hause No. 2 ist das Wohngebäude, ein Querhaus, stehen geblieben, vom Wirthschaftsgebäude ist das ganze Sparrwerk nördlich in den Garten geschleudert. Im garten sind mehrere Bäume nach Westen umgeweht. Ein aus der Erde gerissener Apfelbaum fand sich 10-12 Schritt westlich von seinem Standorte mit den Wurzeln nach oben. Die Reihe der großen Linden, westlich vom Wohnhause, ward stark an's Dach gedrückt, ist aber nur theilweise in den Zweigen beschädigt.
7) Auf der großen Diele der Scheune No. 2a arbeitete ein Tischler, derselbe erzählt: "Die beiden großen Scheunenthüren standen offen, der Sturm jagte von Osten nach Westen über die Diele und nahm alles mit sich fort, nicht nur Spähne und Abschnitte, sondern auch meine großen Hobel, selbst von den beiden auf der Diele stehden Wagen lief der eine aus der Thür und der andere rannte sich kurz vor derselben fest. Die Balkenlage ward an einigen Stellen aus den Kämmen gehoben und aus den aufliegenden Brettern zogen sich die Nägel theilweise über 1 Zoll.
Auf der Hofstelle stand ein Wagen (x der Zeichnung), derselbe lief fortwährend hin und her. Die beiden neben der Scheune stehenden großen starken wilden Kirschbäume brachen in mannshöhe ab und fielen gegen Westen."
Das Haus No. 2 hat die höchste Lage und die Spuren der Zerstörung sind hier in der größten Breite von ca. 200 Schritte, wahrnehmbar.
8) Die Häuser No. 3 und 4, sowie die Scheune No. 4a, sind in diesem Frühjahr abgebrannt; ersteres ist zwei Stock hoch mit flachem nach Osten überstehendem Pappdach wieder aufgebaut. Der Wind faßte den Vorsprung und warf einige Sparren nebst zugehörigen Brettern gegen Westen in den benachbarten garten. Die Pappstücke flogen wie "Fahnen" in der Luft herum. Westlich vom Hause No. 3 steht ein starker Birnbaum, der theilweise seine Krone verlor und gegen Südost geschoben ist.
9) Das Haus No. 4 ist noch nicht wieder aufgebaut; die nordwestliche Ecke der Brandmauer, welche 6 Arbeiter noch vor kurzer Zeit nicht umzuwerfen im Stande waren, ward vom Winde in die daneben liegende Kalkgrube gestürzt, so daß die Spritzen davon bis zum Hause No. 7 flogen. Ein Arbeiter, der hier vom Winde gefaßt war, hatte diese Mauer als seinen Haltpunkt im Auge; im Fluge gelang es ihm aber, sich vorher an einem andern Gegenstand zu halten, von wo aus er die Mauer gleich darauf stürzen sah.
10) Ein Dragoner, der längs der Straße auf das Haus No. 5 zuging, ward dort von dem Zopf zweier fallenden Ulmen niedergeschlagen. Er stand unbeschädigt, aber ganz weiß von Kalkspritzen (9) wieder auf, während daneben beim hause No. 8 ein Mann ganz schwarz wurde, indem ihn der Inhalt eines vom Dach fallenden Theergrapens total überschüttete.
11) Vom Hause No. 5 wehte die Ecke des Daches mit Ostwind, und gleich darauf ging ein Westwind durch das Haus, welcher aus der mit x bezeichneten Thür ein kleines Mädchen von der Seite seiner Mutter nahm und es kopfüber in der Luft über Zaun und Busch, etwa 200 Schritte weit, dem See entgegen schleuderte. Ein Arbeiter rettete das Kind aus der Gefahr des Ertrinkens, er fand es auf der schrecklichen Luftreise, indem er seinen Hut verfolgte, der ihn beim Hause No. 8 nach derselben Richtung abgeweht war. Der Hut fand sich aber erst am andern Tage unter den neben dem hause No. 5 umgewehten Ulmen.
12) Vom Hause No. 6 ist das Sparrwerk an der Nordwest-Seite des Hauses aufzufinden. Der Schornstein fiel vor zwei Frauen nieder, die unbeschädigt blieben. Bei dem Hause No. 11 sind 2 Bäume nach Nordwest gefallen; davon ist der eine gebrochen, der andere mit der Wurzel herausgerissen.
13) In der niedrigen, leicht gebauten Schmieder No. 10, haben Tafeln und Fenster einigen Schaden gelitten. Der robuste Schmied meinte: er wisse von Feuer nachzusagen, aber das sei Nichts gegen ein solches Unwetter, bei dem der Körper gänzlich die Freiheit des Handelns verliere.
Das Pfannendach des Hauses No. 9 ist theilweise beschädigt. Auf dem pappdach des neuen hauses No. 8 waren mehrere Arbeiter beschäftigt, welche sich wegen des Regens in Schutz zogen und dadurch vor dem Verwehen gerettet wurden.
14) Der See wurde von einigen Leuten beobachtet, welche am westlichen Ende des Dorfes unter dem Schutzdach einer Schmiede standen. Einer dieser Augenzeugen sagt aus: Im See entstand eine tiefe Furche und durch dieselbe zog sich ein Wasserkegel, dessen Spitze etwa die Höheder Kirche hatte; wie lange er sich hielt und wohin er ging, kann ich nicht sagen, da das gewaltige Ereigniß im Dorf meine Aufmerksamkeit fesselte. Im tollen Wirbel sah ich dort Staub, Stroh und sonstige Gegenstände durcheinander fliegen. Die dauer des Sturmes schätze ich auf höchstens 2 Minuten.
15) Jenseits des Sees sind keine sichtbare Spuren der Windhose, nur heißt es, daß man bei der Meierei zu Oevelgönne und in den Salzwiesen bei Altenkrempe noch ihr Geräusch in der Luft gehört habe.
16) Ein Arbeiter, welcher auf dem kleinen Moore nordwestlich von Süsel beschäftigt war, erzählte auf Befragen: "Ich habe auf dem Platz, wo ich jetzt stehe, auch das Brausen gehört, so, als wenn Böses durch die Luft flog;" es nahm den Weg über die westlichen Häuser des Ortes und das Moor gegen NO. und ist jedenfalls nur eine Abzweigung des Hauptzuges gewesen.

Aus den vorstehenden Nachrichten dürfte Folgendes zu resumieren sein: Die Windhose erschien bei einem schwachen Gewitter (2), entstand muthmaßlich vor der Siesselrader Höhe, senkte sich erst beim Dorfe Süsel auf die Erde, verließ dieselbe aber gleich hinter Süsel (15), zog über Oevelgönne nach Altenkrempe, wo sie zuletzt gehört sein soll. Der Lauf derselben ging also von Südwest nach Nordost und hat 2 Meilen Länge, in deren Mitte Süsel liegt. Zerstörend ist sie hier nur in einer Strecke von circa 500 Schritt aufgetreten, aber auch so gewaltig, daß sie in etwa 2 Minuten von 3 Häusern fast das ganze Sparrwerk abtrug, von 3 anderen nur Theile desselben oder des Daches beschädigte, von einer Brandruine die Mauer umwarf, einige 20 Bäume entwurzelte oder abbrach, zwei Kinder auf mehrere hundert Schrite wegwehte und Erwachsene zu Boden stieß. Diese, an ein Erdbeben erinnernde, Scenen versetzten selbst die Besonnensten in Angst und Schreck, brachten viele leute in gefahr, von denen aber wie durch ein Wunder Niemand am Leibe beschädigt ward. Die Bahn der Zerstörung ist anfangs 15 Schritt breit, wächst auf der größten Terrainhöhe bei dem Hause No. 2 auf 200 Schritt und nimmt dann mit dem Fall des Terrains beim Hause No. 3 bis zu 60 Schritt ab. Da der wirbelnde Luftkegel die Spitze nach unten gehabt haben wird, so dürfte anzunehmen sein, daß das höhere Terrain sich tiefer in den Kegel hineinschob, und daher in größerem Umfange der Zerstörung ausgesetzt war.
In Figur 1 sollen die Kreise Wirbel bezeichnen, die sich in der Richtung der Pfeile drehen. Schieben sich nun diese Wirbel von Süden nach Norden, so daß der gemeinschaftliche Mitelpunkt C auf der Linie SN fortläuft, so wird an der rechten Seite A erst im O, dann im S und zuletzt im Westwind sein. Auf der linken Seite bei B ist erst O, dann N und zuletzt Westwind. Auf dem Wege, den die Windhose durch Süsel nahm, sind fast alle Gegenstände von rechts nach links gestoßen, der Wind hatte also eine Drehung von rechts nach links; die Gegenstände rechts der Mittellinie hatten daher in rascher Folge O, S und W (wie A in Figur 1) und die links der Mittellinie O, N und W (wie B.)
Der Wirbel mußte also bei dem hause No. 1 mit Südwind auftreten, bei No. 2 und 3 mit SO, bei No. 5 und 6 mit Ostwind, was auch aus der Lage der gefallenen Gegenstände und den Bewegungen in der Scheune No. 2a (7) hervorgeht. Die Linden, welche gegen das Dach des Hauses No. 2 gedrückt wurden (6), der Baum, welcher bei No. 3 gegen SO geschoben wurde (8), das Kind, welches aus dem Hause No. 5 wehte (11), waren gegen den östlichen Wind geschützt und wurden erst von dem Westwinde des zurückkehrenden Wirbels gefaßt. Der Wagen auf der Hofstelle von No. 2 hatte eine hin- und hergehende Bewegung (7), er war also bald unter der Herrschaft des vorderen, bald unter der des hinteren Wirbelwindes, d.h. er wurde abwechselnd vom SO und NW geschoben und so oft er hin- und zurücklief, so viele Wirbelringe müssen aufeinander gefolgt sein, die kräftig genug waren, den Wagen zu bewegen. Der Hut, welcher beim hause 8 nach dem See flog (11), hat wahrscheinlich die kreisende Bewegung des Wirbels öfterer durchgemacht, wenigstens einmal; er rannte sich zuletzt mit Westwind fest, bei den neben No. 5 gefallenen Ulmen. Nur in dem Garten bei 12 liegen die Bäume gleichlaufend mit dem Gange des Wirbels; sie müssen also rechts der Mittellinie durch den dort herrschenden Westwind gefallen sein.
Wenn man sich in Fig. 1 die Windrichtung umgekehrt denkt, so bekommt A erst W, dann N und zuletzt Ostwind. In dieser Lage, also rechts von der Mitte eines Wirbels, der sich entgegengesetzt drehte, befanden sich die Arbeiter auf dem großen Moore (2).
Hieraus und aus der Angabe des Arbeiters auf dem kleinen Moor (16) ist abzunehmen, daß die Windhose, welche durch die Mitte des Ortes ging, auf der Westseite, in 1/4 Stunde Entfernung, von einer zweiten schwächeren mit entgegengesetzter Drehung begleitet wurde. Ueber Barometer- und Thermometerstand sind an Ort und Stelle keine Beobachtungen gemacht."



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